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INHALT

 

Werner Renz: Fritz Bauer sells. Kritische Anmerkungen zu Julien Reitzensteins "Anklageschrift" gegen Bruno Beger oder das Verbrechen der "Straßburger Schädelsammlung" als Gegenstand forensischer Geschichtsschreibung. (September 2018)

 

Hans-Joachim Lang: Nicht alle Besen kehren gut. Julien Reitzenstein fegt durch die Geschichte der 86 Morde im KZ Natzweiler-Struthof. Anmerkungen zu einer Neuerscheinung (April 2018)

 


 

Werner Renz

Fritz Bauer sells

Kritische Anmerkungen zu Julien Reitzensteins »Anklageschrift« gegen Bruno Beger oder das Verbrechen der »Straßburger Schädelsammlung« als Gegenstand forensischer Geschichtsschreibung

 

Mit Fritz Bauer (1903–1968), in den letzten Jahren durch Dokumentar- und Spielfilme zur medialen Größe geworden, kann Aufmerksamkeit erregt, Erinnerungspolitik gemacht, auch Eigenwerbung betrieben werden. Straßen, Plätze und Schulen werden nach dem Justizjuristen, Rechtspolitiker und Aufklärer benannt, Bauer-Preise ausgelobt. Auch in Untertiteln einiger Bücher kommt Bauer heute vor. Selbst der Autor dieser Buchbesprechung ist zu diesen Beispielen zu zählen.[1] Augenscheinlich braucht Deutschland in postheroischen Zeiten verehrungswürdige Vergangenheitshelden. In Sachen NS-Vergangenheit ist Bauer zur bewundernswerten bundesrepublikanischen Ikone geworden, gerade so, als ob nicht in weiteren Bundesländern durch aufklärungswillige Staatsanwaltschaften bedeutende Komplexverfahren vorbereitet worden wären. Bauers Haupttätigkeitsfeld indessen, die von ihm in zahlreichen Veröffentlichungen geforderte Reform des Straf- und Strafprozessrechts sowie des Strafvollzugs, interessiert heute meist wenig.[2] Der reformeifrige Strafjurist, dem es immer um Gegenwart und Zukunft ging, wird auf den vorgeblich unermüdlichen »Nazi-Jäger« reduziert.

 

Das Verbrechen

Im Juni 1943 reisten die bei der SS-Wissenschaftsgemeinschaft »Das Ahnenerbe« bzw. beim Rasse- und Siedlungshauptamt der SS angestellten Anthropologen Bruno Beger (*1911) und Hans Fleischhacker (*1912) sowie der Präparator Wilhelm Gabel (*1904) nach Auschwitz. Die »Wissenschaftler« hatten den geheimen »Sonderauftrag« Himmlers, »fremdrassische« Häftlinge »anthropologisch« zu erfassen. Ob es bei dem Vorhaben ursprünglich allein um Juden oder auch um sowjetische Kriegsgefangene »inner- bzw. vorderasiatischer« Herkunft ging, ist eine in der Forschung kontrovers diskutierte Frage. Der Plan war, eine »Schädel-« bzw. »Skelettsammlung« aufzubauen. Die Sammlung sollte an der Ende 1941 gegründeten »Reichsuniversität« Straßburg entstehen.

Beger und Fleischhacker vermaßen 115 Häftlinge. Von rund 20 fertigte Gabel Abformungen des Kopfes (Gesichtsmasken) an. 57 Männer und 29 Frauen, allesamt Juden, wurden unter den erfassten 115 Häftlingen ausgewählt und Anfang August 1943 von Auschwitz ins KZ Natzweiler verbracht. In dem im Elsass gelegenen Konzentrationslager führte Beger an den Opfern noch Blutgruppenuntersuchungen durch und machte Röntgenaufnahmen. Nach Abschluss seiner Arbeit ermordete Lagerkommandant Josef Kramer eigenhändig die Frauen und Männer gruppenweise in einer rund 20 Kubikmeter großen Gaskammer (»G-Zelle«). Das für den Mord benötigte Tötungsmittel hatte Wolf-Dietrich Wolff, Persönlicher Referent des Geschäftsführers des »SS-Ahnenerbes«, Wolfram Sievers, von Berlin nach Straßburg gebracht und dem Direktor des Anatomischen Instituts der Reichsuniversität Straßburg, August Hirt, übergeben. Dieser wiederum reichte es an Kramer weiter. Die ermordeten 86 Juden wurden anschließend nach Straßburg transportiert. Dort lagerte Hirt die Leichen im Keller seines Instituts. Einige der Leichname sowie Körperteile fanden die Alliierten im November 1944 im befreiten Straßburg noch vor.

 

Die Straßburger »Schädel«- bzw. »Skelettsammlung«

Ende 1941 wurde im »SS-Ahnenerbe« der »Vorschlag« erörtert, eine Sammlung von »Judenschädeln« zu schaffen. Sievers hielt in seinem Diensttagebuch den mit Beger besprochenen »Vorschlag« fest und führte Hirt und das SS-Rasse- und Siedlungshauptamt als Kooperationspartner an. Im Februar 1942 leitete der »Ahnenerbe«-Geschäftsführer an Rudolf Brandt (Himmlers Persönlichen Referenten im Persönlichen Stab des Reichsführers-SS) neben einem von Hirt verfassten und unterschriebenen Forschungsbericht als weitere Anlage eine undatierte und nicht unterzeichnete »Denkschrift« weiter. Das 37 Zeilen umfassende Schriftstück betraf die »Sicherstellung der Schädel von jüdisch-bolschewistischen Kommissaren zu wissenschaftlichen Forschungen in der Reichsuniversität Strassburg«.[3] Eingangs wird in der »Denkschrift« festgestellt, dass es von Juden im Gegensatz zu »allen Rassen und Völkern« keine umfangreiche[n] Schädelsammlungen gebe, dass nunmehr aber der »Krieg im Osten […] die Gelegenheit« biete, »diesem Mangel abzuhelfen«. Denn: »In den jüdisch-bolschewistischen Kommissaren, die ein widerliches aber charakteristisches Untermenschentum verkörpern, haben wir die Möglichkeit, ein greifbares wissenschaftliches Dokument zu erwerben, indem wir uns ihre Schädel sichern.« Die Wehrmacht sollte die Gefangenen bereitstellen. Sie seien zu fotografieren und zu vermessen, sodann anschließend zu töten. Der Kopf der Toten sei vom Rumpf zu trennen, wobei er »nicht verletzt werden« dürfe. Die an den »Bestimmungsort«, eben die im Betreff genannte »Reichsuniversität Strassburg«, verschickten Köpfe sollten folgenden Zweck dienen: »An Hand der Lichtbildaufnahmen, der Masse und sonstigen Angaben des Kopfes und schliesslich des Schädels können dort nun die vergleichenden anatomischen Forschungen, die Forschungen über Rassezugehörigkeit, über pathologische Erscheinungen der Schädelform, über Gehirnform und -grösse und über vieles andere mehr beginnen.« Abschließend wird die Straßburger Universität »ihrer Bestimmung und ihrer Aufgabe gemäss« als »die geeignetste Stätte« für die projektierte Schädelsammlung angeführt.[4]

An der Hochschule gab es bereits eine von dem Anatomen Gustav Schwalbe (1844–1916) aufgebaute Sammlung von Schädeln. Im weiteren Schriftverkehr der an dem Verbrechen Beteiligten ist sodann meist von einer Sammlung von Skeletten »Fremdrassiger« die Rede. Beger sollte bereits 1942 seine Reise nach Auschwitz antreten. Eine im Lager ausgebrochene Epidemie verhinderte jedoch das Vorhaben.

Autor Reitzenstein ist der Auffassung, dass Beger, entgegen seinen Einlassungen in dem seit Frühjahr 1960 gegen ihn von der Frankfurter Staatsanwaltschaft geführten Verfahren, allein zu dem Zweck nach Auschwitz gefahren sei, um unter den sowjetischen Kriegsgefangenen des Lagers Menschen »vorder- und innerasiatischer« Herkunft auszusuchen. Erst als er kaum einen »mongolischen Typ« unter den Lagerinsassen gefunden habe und das Unternehmen nicht erfolglos habe abbrechen wollen, habe er als »Alternativprogramm« (S. 234) kurzer Hand und eigenmächtig und um möglicherweise eine »Blamage« (S. 7, 434, 446, 447) zu vermeiden Juden ausgewählt.

Reitzenstein lässt unerörtert, ob Beger nicht Rücksprache zumindest mit seinem Vorgesetzten Sievers hätte halten, mithin die »Freigabe« von Juden anstelle von »Vorder- und Innerasiaten« erbitten müssen. An Juden, wie der Autor wiederholt hervorhebt, sei weder Beger noch Hirt gelegen gewesen.

Hier stellt sich freilich die Frage, wie ein nicht entscheidungsbefugter SS-Angehöriger wie Beger ohne Unterrichtung seiner vorgesetzten Stelle und ohne deren Zustimmung, zumal in klarer Abweichung von Himmler »Sonderauftrag«, einfach Juden auswählen konnte. Selbst im NS-Unrechtsstaat und im rechtsfreien Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz konnten vergleichsweise niedere Chargen der SS nicht nach Gutdünken handeln. Für Reitzenstein stellt sich die Sache ganz simpel dar: »In Ermangelung der intendierten Opfergruppe in Auschwitz«, das heißt: »Inner- und Vorderasiaten« unter den sowjetischen Kriegsgefangenen, »wechselte Beger diese spontan und möglicherweise irrational.« (S. 453. So problemlos stellt sich dem Autor das Befehls-Gehorsams-Verhältnis in der SS dar.

 

August Hirt oder Bruno Beger?

In der Forschung ist strittig, von wem der von Sievers in seinem Diensttagebuch im Dezember 1941 festgehaltene Vorschlag und die an Brandt im Februar 1942 geschickte »Denkschrift« stammen. Die bisherige Forschung sieht meist in Hirt den Hauptakteur. Reitzenstein hingegen will in seinem Buch den Nachweis erbringen, Vorschlag und »Denkschrift« seien Beger zuzuschreiben.

 

Die Geschichte des Beger-Verfahrens (1960–1971)

Wie oben bereits erwähnt, ermittelte die Frankfurter Staatsanwaltschaft seit 1960 gegen Beger. Das Beger-Verfahren gilt es an dieser Stelle genau nachzuzeichnen, weil Autor Reitzenstein in seinem Buch das Verfahren oftmals unzutreffend darstellt.

 

Das Vorverfahren (1960–1968)

Das von der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Frankfurt am Main im Sommer 1959 eingeleitete Ermittlungsverfahren gegen Auschwitz-Personal (4 Js 444/59)[5] brachte es mit sich, dass Bruno Beger als Beschuldigter geführt wurde. In der ersten, auf den 18. Januar 1960 datierten, 599 Namen umfassende Beschuldigtenliste wird unter Nr. 36 aufgeführt:

»Beger, Dr. med. Bruno, geb. 17.4.1911 Lagerarzt in Auschwitz«.[6]

Bereits wenige Wochen nach der Fertigstellung der Liste hatte sich das Wissen der beiden von Fritz Bauer beauftragten Staatsanwälte Joachim Kügler (1926–2012) und Georg Friedrich Vogel (1926–2007) verbessert. Die Staatsanwaltschaft beantragte mit Schreiben vom 18. März 1960 beim Amtsgericht Frankfurt am Main einen Haftbefehl gegen Beger und weitere Beschuldigte. Der in Frankfurt am Main lebende Beger war dringend verdächtig »in Auschwitz im Jahr 1943 […] Menschen getötet zu haben«.[7] Nach den Erkenntnissen der Strafverfolger hatte er

»als SS-Hauptscharführer und Mitglied der Dienststelle ›Ahnenerbe‹ (Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung) in dem Konzentrationslager Auschwitz insgesamt 115 Personen, davon 79 Juden, 2 Polen, 4 Innerasiaten und 30 Jüdinnen, unter den Häftlingen herausgesucht, damit diese von dem Konzentrationslager Auschwitz nach dem Konzentrationslager Natzweiler verbracht, dort getötet und alsdann in die Anatomie der Universität Straßburg überführt werden konnten, wo der ehemalige SS-Hauptsturmführer Professor Dr. Hirth [sic!] die Häftlingsleichen zum Zwecke des Aufbaus einer Sammlung von Skeletten verwerten wollte.«[8]

Das Amtsgericht Frankfurt am Main erließ am 30. März 1960 Haftbefehl, der am Tag darauf vollstreckt wurde.[9] In seiner ersten Einlassung beteuerte Beger, er habe den als »Geheime Reichssache« deklarierten »Sonderauftrag« gehabt, »anthropologische Untersuchungen an Juden vorzunehmen« und »möglichst viele Spielarten der Judenheit festzustellen«. Außerhalb seines Auftrags sei er allerdings auch wegen seiner sonstigen »wissenschaftlichen Tätigkeit natürlich an Innerasiaten interessiert« gewesen. Erst später will er erfahren haben, dass die von ihm ausgewählten und untersuchten Häftlinge für eine »Skelett-Sammlung vorgesehen waren«.[10] In seiner amtsrichterlichen Vernehmung vom 1. April 1960 versicherte der Untersuchungshäftling Beger, dass er »bei Erteilung des Auftrages zur Untersuchung der Juden nicht gewusst habe, welches Schicksal« die Häftlinge erwarte.[11] Auch in seinem Brief vom 4. April 1960 an den das Ermittlungsverfahren führenden Staatsanwalt Kügler, legte er dar, er habe »im KZ Auschwitz eine größere Anzahl Juden anthropometrisch zu bearbeiten«[12] gehabt. Nicht anders ließ sich der Beschuldigte in seinen Vernehmungen durch den Untersuchungsrichter Heinz Düx (1924–2017) im Rahmen der gerichtlichen Voruntersuchung aus: »Der Auftrag ging dahin, eine anthropologische Untersuchung an jüdischen Häftlingen in Auschwitz durchzuführen«.[13] Und im April 1963: »Soweit ich mich erinnere, hat Prof. Hirt nur von einer anthropologischen Untersuchung von Juden gesprochen. Hirt wollte, daß an diesen Juden anthropologische Vermessungen vorgenommen werden.«[14]

Beger war für die beiden, das Auschwitz-Verfahren führenden Staatsanwälte ein Beschuldigter unter vielen und zudem etwas aus dem Rahmen gefallen. Er gehörte nicht zum SS-Personal des Lagers Auschwitz, konnte deshalb auch schwerlich in den geplanten Prozess gegen die SS-Besatzung des Konzentrations- und Vernichtungslagers einbezogen werden.

Als die Frankfurter Staatsanwaltschaft nach rund zwei Jahren wesentliche Ermittlungsergebnisse vorliegen hatte, stellte sie am 12. Juli 1961 bezüglich von 24 Beschuldigten den von der Strafprozessordnung vorgeschriebenen Antrag auf Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung beim Landgericht Frankfurt am Main. Mit Verfügung vom 19. Juli 1961[15] trennte sie sodann das Verfahren gegen Beger von ihrem Mitte 1959 eingeleiteten Ermittlungsverfahren – das zum 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess, der »Strafsache gegen Mulka u.a.« (1963–1965) führte – ab. Gleichzeitig leitete sie eine neue Js-Sache unter dem Aktenzeichen 4 Js 1031/61 gegen nunmehr 839 Beschuldigte ein, zu denen auch Bruno Beger zählte.

Da das seit Frühjahr 1960 laufende Verfahren gegen Beger bereits ausreichende Ermittlungsergebnisse vorzuweisen hatte, stellte die Strafverfolgungsbehörde im August 1961 im Fall Beger Antrag auf Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung beim Landgericht Frankfurt am Main.[16] Der beauftragte Untersuchungsrichter Düx eröffnete sie drei Wochen später.[17]

Die Sachbearbeiter Kügler und Vogel waren zur Zeit der Abfassung der im April 1963 eingereichten Anklageschrift in der »Strafsache gegen Mulka u.a.« der Auffassung, dass die Idee zur Schädelsammlung auf August Hirt zurückzuführen sei. In ihrer Anklageschrift heißt es im historischen Teil in einem Abschnitt über die »jüdische Skelettsammlung«:

»Der bei der ehemaligen Reichsuniversität Straßburg als Anatom tätig gewesene Prof. Dr. med. Hirth [sic] entwickelte in seiner Eigenschaft als Mitglied des sogenannten ›Ahnenerbes‹, einer Art Privatuniversität Himmlers, den Gedanken, eine Sammlung von Skeletten von Juden in der Universität Straßburg anzulegen, damit man nach Ausrottung der jüdischen Rasse deren angeblich vorhandene typische anthropologische Merkmale studieren könnte. Himmler hieß den Plan gut. Im Juni 1943 fuhr dann der ebenfalls dem ›Ahnenerbe‹ angehörende SS-Hauptsturmführer Dr. phil. Bruno Beger[18] mit einem Mitarbeiterstab nach Auschwitz und suchte dort 115 Häftlinge, davon 79 Juden, 2 Polen, 4 Innerasiaten und 30 Jüdinnen, unter anthropologischen Gesichtspunkten aus. Diese Häftlinge wurden vermessen, zum Teil wurden noch in Auschwitz Gesichtsmasken von ihnen abgenommen. Am 30.7.1943 wurden diese Häftlinge aus dem Konzentrationslager Auschwitz in das bei Straßburg gelegene Konzentrationslager Natzweiler gebracht. Dort wurden sie unter Aufsicht des Lagerkommandanten [Josef, W.R.] Kramer, der später Kommandant des Lagers Auschwitz-Birkenau wurde, durch Zuführung von Gas ermordet. Die Leichen von etwa 80 Häftlingen wurden dann in die Anatomie der Reichsuniversität Straßburg überführt. Die Herstellung der Skelette verzögerte sich jedoch bis Kriegsende. Die Häftlingsleichen wurden von der einrückenden amerikanischen Armee gefunden. Dieser Sachverhalt ist im einzelnen durch die erhalten gebliebenen Dokumente belegbar. Auf das in diesem Zusammenhang gegen Dr. Beger anhängige Verfahren 4 Js 1013/61[19] Staatsanwaltschaft Frankfurt – in dem zur Zeit die gerichtliche Voruntersuchung läuft – wird Bezug genommen.«[20]

Im Verlauf des Vorverfahrens gerieten zwei weitere Akteure in den Fokus der Justiz. Begers Kollege Hans Fleischhacker und Sievers Persönlicher Referent Wolf-Dietrich Wolff wurden in das Verfahren einbezogen. Gegen die beiden Beschuldigten stellte die Staatsanwaltschaft am 24. Juli 1963 Antrag[21] auf Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung, die Untersuchungsrichter Düx nach wenigen Wochen eröffnete.[22] Bereits im November 1963 hielt Düx den Zweck der Voruntersuchung gegen Fleischhacker und Wolff erreicht.[23] Förmlich schloss er sie mit Beschluss vom 17. Dezember 1963.[24] Gleichzeitig schloss er die Voruntersuchung gegen Beger.[25] Bereits am 11. April 1963 hatte Düx die Verfahrensakten im Fall Beger an die Staatsanwaltschaft mit der Feststellung zurückgesandt, der »Zweck der Voruntersuchung« sei erreicht.

Am 20. Dezember 1963 begann im Frankfurter Rathaus der Prozess gegen Mulka u.a. andere, der in die bundesrepublikanische Justizgeschichte als der »Auschwitz-Prozess« einging. Zunächst standen 22 Angeklagte vor Gericht. Im Verlauf der Hauptverhandlung schieden zwei aus Krankheitsgründen aus. Das Urteil vom 19./20. August 1965 erging gegen 20 Angeklagte. 17 wurden zu Freiheitsstrafen verurteilt, drei freigesprochen.

Die starke Beanspruchung durch den Großprozess (183 Verhandlungstage) brachte es mit sich, dass Staatsanwalt Kügler nicht die Zeit fand, die seit der Schließung der gerichtlichen Voruntersuchung im Dezember 1963 anstehende Abfassung der Anklageschrift gegen Beger u.a. in Angriff zu nehmen.

Nach dem im Sommer 1965 verkündeten Urteil im Auschwitz-Prozess wandte sich Kügler mit Schreiben vom 27. August 1965[26] an seinen Behördenleiter Oberstaatsanwalt Dietrich Rahn (1910–1995) und kündigte an, er wolle die allfällige Anklageschrift in Sachen Beger nach der Rückkehr aus seinem Urlaub[27] fertigen. Interessanterweise meinte Kügler in seinem Schreiben, allein Beger und Wolff anklagen zu wollen, während Fleischhacker außer Verfolgung zu setzen sei.

Der Verlauf des Beger-Verfahrens nahm eine gänzlich andere Wendung. Kügler schied Ende 1965 aus dem Justizdienst aus.[28] Sein Kollege Vogel ging an seine Heimatbehörde in Darmstadt zurück. Ein weiterer Vertreter der Anklage im großen Auschwitz-Prozess, Gerhard Wiese (*1928), sah sich gleichfalls außerstande, die Anklageschrift auszuarbeiten. Er vertrat ab Dezember 1965 die Anklage im 2. Auschwitz-Prozess.[29]

Fehlendes geeignetes Personal bei der Frankfurter Staatsanwaltschaft veranlassten Fritz Bauer im Jahr 1966, das Verfahren an seine Behörde zu ziehen.[30] Die beiden Verfahren gegen Beger (4 Js 1031/61) und gegen Fleischhacker und Wolff (4 Js 804/63) wurden verbunden und Mitte 1966 ein neues Ermittlungsverfahren (Js-Sache) mit dem Aktenzeichen Js 8/66 (GStA) von der Behörde des Generalstaatsanwalts eingeleitet.

OStA a.D. Johannes Warlo (*1927) berichtet, er sei im Frühsommer 1966 von Bauer[31] beauftragt worden, die Anklageschrift auszuarbeiten. Allein auf der Grundlage der Akten (Vernehmungsprotokolle und Urkunden (Dokumente)) erstellte er sie.[32] In einem Schreiben vom 1. September 1966 an das hessische Justizministerium meinte Warlo bereits, die Anklageschrift sei »im Konzept fertiggestellt« und werde »gegenwärtig in der Kanzlei geschrieben«. Sie könne »voraussichtlich in 4 Wochen dem Gericht zugeleitet werden«.[33] Doch ihre Fertigstellung verzögerte sich aus verfahrensrechtlichen, an dieser Stelle nicht darzustellenden Gründen.[34] Auch musste noch die Beglaubigung vieler Urkunden (Dokumente) durch diverse Archive eingeholt werden.

Datiert ist die Anklageschrift letztendlich auf den 8. Mai 1968.[35] Unterzeichnet hat sie Fritz Bauer. Angeklagt waren neben Beger und Wolff auch Fleischhacker.

Mit der Einreichung der Anklageschrift beim Landgericht Frankfurt am Main übertrug Bauers Behörde »die Verrichtungen der Staatsanwaltschaft« der ihm nachgeordneten landgerichtlichen Anklagebehörde.[36] Warlo meinte im Interview, es sei schon 1966 entschieden gewesen, dass die Anklage von der Staatsanwaltschaft beim LG Frankfurt am Main und nicht von Bauers Behörde vertreten werde.[37]

 

Warlos Anklageschrift vom 8. Mai 1968

Staatsanwalt Johannes Warlo gelangte bei seiner Auswertung der Beweismittel zu der Erkenntnis, dass Beger der Autor der oben erwähnten »Denkschrift« über die »Sicherstellung der Schädel von jüdisch-bolschewistischen Kommissaren« sei. Er erachtete es auch als erwiesen, dass der Angeschuldigte Beger von Beginn des Unternehmens »Schädelsammlung« an Kenntnis von dem »Tötungsplan« hatte. In seiner rechtlichen Würdigung qualifizierte Warlo die drei Angeklagten als »Mittäter«.[38] »In Kenntnis des Zieles und der einzelnen Tatumstände des Planes« hätten sie »bewusst und wesentlich die Tötungen gefördert«. Beger und Fleischhacker hätten »die Opfer nach eigenem Gutdünken ausgewählt und die Auswahl der Opfer durch anthropologische Messungen wissenschaftlich untermauert«. Dabei seien sie »in der Auswahl der Opfer völlig frei« gewesen. Zu Beger stellte der Staatsanwalt noch fest, er habe »darüber hinaus als Allein- oder Miturheber des gesamten Projekts ein erhebliches Eigeninteresse bekundet«.[39]

 

Das Zwischenverfahren (1968–1970)

Die Zulassung der Anklage und die Eröffnung des Hauptverfahrens verlief aus der Sicht der Strafverfolgungsbehörde keineswegs glatt. Das Landgericht Frankfurt am Main eröffnete zwar mit Beschluss vom 16. Oktober 1969[40] das Hauptverfahren gegen Beger und Wolff wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord, setzte aber Fleischhacker außer Verfolgung.[41] Die 3. Strafkammer des Landgerichts war der Auffassung, die Einlassung des Angeklagten Fleischhacker, keine Kenntnis davon gehabt zu haben, dass die »untersuchten Häftlinge zur Anlegung einer Schädel- bzw. Skelettsammlung getötet werden sollten«, sei »auf Grund der durchgeführten Ermittlungen nicht hinreichend zu widerlegen«.[42] Auf die Beschwerde[43] der Staatsanwaltschaft, der der Generalstaatsanwalt[44] beitrat, hob das Oberlandesgericht Frankfurt am Main mit Beschluss vom 26. Januar 1970 den LG-Beschluss auf und eröffnete das Hauptverfahren auch gegen Fleischhacker.[45] Ebenso wie das Landgericht im Fall Beger und Wolff sah das Oberlandesgericht bei Fleischhacker auch nur Beihilfe und nicht wie die Anklage Mittäterschaft als gegeben an.[46] Im Fall Beger hob die Eröffnungskammer des Landgerichts im Gegensatz zu Warlos Anklageschrift hervor, gegen Beger bestehe »kein hinreichender Tatverdacht an der Urheberschaft«[47] des Schädelsammlung-Vorhabens. Sie qualifizierte ihn deshalb nur als Gehilfen und nicht als Mittäter

Fleischhackers Anwälte machten in Karlsruhe noch den Versuch, den Prozess gegen ihren Mandanten zu vermeiden. Ihre Verfassungsbeschwerde vom 4. September 1970[48] wegen vorgeblich nicht ordnungsgemäßer Besetzung des Senats, der den Beschluss vom 26. Januar 1970 gefasst hatte, wurde aber vom Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen.[49]

 

Das Urteil von 1971

Erst im Oktober 1970, Fritz Bauer war bereits mehr als zwei Jahre tot, begann der Prozess gegen die drei Angeklagten (4 Ks 1/70). Die Anklage wurde, wie bereits dargelegt, nicht von der Behörde des Generalstaatsanwalts, sondern von der landgerichtlichen Staatsanwaltschaft vertreten. Bei den Anklagevertretern handelte sich um die Staatsanwälte Gerhard Wiese[50] und Reinhard Roth.

Am 3. März 1971 trennte das Gericht[51] das Verfahren gegen Fleischhacker ab und sprach ihn zwei Tage darauf frei.[52] Die Anklagevertretung legte keine Rechtsmittel ein.[53] Einen Monat später, mit Urteil vom 6. April 1971 (nach 31 Verhandlungstagen), wurde Beger wegen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord an 86 Menschen zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Das Verfahren gegen Wolff stellte das Gericht ein. Seine Taten waren nach dem 1968 novellierten § 50 Abs. 2 Strafgesetzbuch verjährt.[54]

Nach Auffassung des Gerichts hatte Beger einzig wegen seiner Tätigkeit im August 1943 in Natzweiler Mordbeihilfe geleistet. Als er im KZ die Blutgruppen der 86 Häftlinge bestimmte und ihre Köpfe röntgte, habe er gewusst, dass die Menschen getötet werden sollten. Zur Zeit der Auswahl und nachfolgenden »Vermessung« der Häftlinge in Auschwitz sei ihm ein Wissen um den Tötungsplan zweifelsfrei nicht nachzuweisen. Nicht feststellen konnte das Gericht u.a., ob Beger »ein eigenes Interesse an der Anlegung einer Skelettsammlung jüdischer Menschen hatte«.[55] Für die »Ansicht der Anklagebehörde«, Beger »sei zumindest Miturheber des Gesamtplanes gewesen«, bestand für das Gericht »kein Anhaltspunkt«. Kurz: »Nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung ist nicht ersichtlich, daß er bei der Planung überhaupt aktiv mitgewirkt hat.«[56] Gegen das Beger-Urteil legte neben der Verteidigung[57] auch die Staatsanwaltschaft Revision[58] ein. Sie nahm sie aber mit Schriftsatz vom 26. Mai 1972[59] zurück.

 

Der »Ankläger« Reitzenstein

Das Landgericht Frankfurt am Main hat in seinem Prozess gegen Beger, Fleischhacker und Wolff nach Ansicht des Autors Reitzenstein Fritz Bauers »letzten Fall« nicht gelöst. Ebenso wenig wie die überwiegende Literatur zur »Straßburger Skelett«- bzw. »Schädelsammlung« habe das Schwurgericht in Beger den Initiator und Exekutoren des Verbrechens sehen wollen.

Durch »forensische Geschichtsschreibung« (S. VIII), eine »Kombination aus Rechtswissenschaften, Rechtsmedizin, Geschichtswissenschaft und weiteren Disziplinen« (ebd.), durch »juristisch klare Sachaufklärung« (S. 16), will Reitzenstein Bauers vorgeblich »letzten Fall« aufklären und abschließen (S. VIII), mithin lösen. Der Autor versteht sein Buch folglich »als Erhärtung des Verdachts, der Fritz Bauer bei seinem letzten Fall antrieb«.[60] Sein Werk »ist damit – in buchhafter Form – auch eine Anklageschrift«, sie ist nach dem Selbstverständnis des forensischen Historikers »Ausgangspunkt eines fiktiven Verfahrens, das eine Superrevisionsinstanz mit der Neubeurteilung des Urteils befasst, welches das Schwurgericht Frankfurt am Main gegen Bruno Beger verhängt hat«. Die Leserinnen und Leser des Buches »besetzen« Reitzenstein zufolge »in diesem Verfahren die Richterbank der Superrevisionsinstanz«. »Die Anklage«, soll heißen: Reitzenstein in selbsternannter Nachfolge Bauers, »wird ihre Fakten vorlegen und ist zuversichtlich, das Gericht«, sprich: das Lesepublikum, »bezüglich Tathergang und Schuld der Angeklagten überzeugen zu können. Dazu wird sie, dazu wird das Buch Fakten darlegen« (alle Zitate: S. IX).

Der Fall Reitzenstein ist interessant und überaus speziell. Gegen das Beger-Urteil vom 6. April 1971 legten, wie bereits oben erwähnt, Anklagevertretung und Verteidigung Revision ein. Im Mai 1972 zog die Staatsanwaltschaft sie jedoch zurück. Die Verteidigung hatte in Karlsruhe insofern Erfolg, als der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 22. März 1973 die Sache an das Schwurgericht »zur Nachholung der Entscheidung über eine eventuelle Anrechnung der« von Beger erlittenen »Internierungshaft sowie zur Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittels«[61] zurückverwies. Das Landgericht Frankfurt am Main hat sodann am 24. Oktober 1973 für Recht erkannt, dass Beger neben seiner rund viermonatigen Untersuchungshaft im Jahr 1960 auch seine Internierungshaft (Mai 1946/Februar 1948) anzurechnen sei.[62] Der »wegen Beihilfe zum gemeinschaftlich begangenen Mord an 86 Menschen«[63] zu drei Jahren Freiheitstrafe musste nach Rechtskraft des Urteils keine Strafhaft mehr antreten. Die Reststrafe wurde ihm 1977 erlassen.[64]

In seinem Buch führt Reitzenstein als Vertreter der Anklage gleichsam eine fiktive Neuverhandlung gegen Beger durch. Das rechtskräftige Urteil gegen den 2009 verstorbenen Angeklagten ist um der Sache willen kurzer Hand gleichsam vom Autor aufgehoben worden. Die geneigte Leserschaft vermag sodann auf der Basis der von Reitzenstein vorgelegten, »Tatsachen« bzw. »Fakten« präsentierenden Anklageschrift, das Urteil des Frankfurter Tatgerichts von 1971 zu revidieren. Ein fürwahr speziell zu nennendes Verfahren: ohne präsenten Angeklagten, ohne präsente Zeugen und ohne Verteidigung. Grundlage seiner »Anklageschrift« (S. IX), seine »Beweismittel«, sind dem Autor die Dokumente, die er durch umfangreiche Archivstudien zusammengetragen hat. Reitzenstein entnimmt ihnen mit auffallender epistemologischer Naivität[65] Tatsachen, die nach der Überzeugung des Autors Beger zweifelsfrei als Täter überführen.

 

Reitzensteins Anklageschrift von 2018

Bei der Quelle Anklageschrift von 1968 ist Reitzenstein ein nicht geringer Fehler unterlaufen. Er datiert sie auf den 8. Mai 1965, statt auf den 8. Mai 1968. Wie eine Anklageschrift mit dem Aktenzeichen Js 8/66 bereits ein Jahr davor eingereicht werden konnte und warum das Zwischenverfahren (von der Vorlage der Anklageschrift bei LG Frankfurt am Main über die Eröffnung des Hauptverfahrens (Eröffnungsbeschluss) bis zum Beginn der Hauptverhandlung) mehr als fünf Jahre (1965–1970) gedauert haben soll, hat sich der Autor beim Studium der Verfahrensakten und bei der Abfassung seiner »Anklageschrift« offenbar nicht gefragt. Die Datierung auf das Jahr 1965 ist kein Versehen. Explizit heißt es bei Reitzenstein im Vorwort: »Nach umfangreichen Vorermittlungen unterzeichnete Bauer persönlich eine Anklageschrift gegen Bruno Beger und weitere Tatbeteiligte – seine wohl letzte Anklage gegen einen NS-Täter. Diese datiert, möglicherweise zufällig, auf den 8.5.1965, also genau 20 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa.« (S. VII)

Den Verlauf des Beger-Verfahrens von 1960 bis 1971, als Fritz Bauers »letzter Fall« apostrophiert, hat Reitzenstein nicht rekonstruiert. Fortwährend schreibt er vom »Beger-Prozess«, wenn das acht Jahre dauernde Vorverfahren (1960–1968: staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren und gerichtliche Voruntersuchung) gemeint ist. Reitzenstein meint überdies, durch Michael H. Kater sei »der Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer auf den Fall aufmerksam« (S. VII) gemacht worden. Die Möglichkeit ist nicht auszuschließen, sofern Kater, der seine Dissertation über das »Ahnenerbe« »Februar 1966«[66] fertiggestellt und an der Universität Heidelberg eingereicht und 1974 als Buch veröffentlicht hat, sich bereits im Jahr 1960 an Bauer wandte. Einen Beleg liefert der Autor freilich nicht. In seinem Quellenverzeichnis führt Kater »Gedächtnisprotokolle« seiner »Unterredungen« sowie seine Korrespondenzpartner detailliert an. Bauer kommt nicht vor. Ein Schreiben Katers an Bauer vom 5. Januar 1968 liest sich als erste Kontaktaufnahme. Kater weist den hessischen Generalstaatsanwalt auf seine Dissertation von 1966 hin und meint, falls Bauer »in dieser Angelegenheit nicht direkt zustaendig« sei, seinen Brief an den »federfuehrenden Staatsanwalt […] weiterzuleiten«.[67] Bauers Antwort vom 26. Februar 1968 enthält gleichfalls keinen Hinweis auf früher bereits stattgefundene Kontakte.[68]

Unter den verwendeten Beweismitteln führt Warlos Anklageschrift von 1968 im Unterkapitel »Literatur« nur drei Bücher auf: Eugen Kogons Der SS-Staat, Alexander Mitscherlichs und Fred Mielkes Medizin ohne Menschlichkeit und William Shirers Aufstieg und Fall des Dritten Reichs.[69] Katers Doktorarbeit fehlt. Hätte Kater seit 1960 mit Bauer Kontakt gehabt, hätte er seine Dissertation von 1966 dem hessischen Generalstaatsanwalt wohl zugesandt. Wie nachweislich in anderen Fällen auch würde Bauer die wichtige Arbeit seinem von ihm persönlich beauftragten Staatsanwalt für die Ausarbeitung der Anklageschrift zur Verfügung gestellt haben, zumal der Jurist mit dem Fall Beger, der Geschichte des »Ahnenerbes« und mit Auschwitz bis zur 1966 erfolgten Beauftragung durch Bauer noch gar nicht befasst gewesen war.[70]

 

Warum Auschwitz?

Beger hat von der ersten Vernehmung Ende März 1960 an bis zu seinen letzten Einlassungen vor dem Untersuchungsrichter von Juden gesprochen, die er dem »Sonderauftrag« Himmlers entsprechend zu vermessen hatte. Er konnte sich mithin zu seiner Entlastung auf eine höhere Anordnung berufen, der er interesselos Folge leisten musste. Ganz anders und zu Ungunsten Begers liest sich Reitzensteins Darstellung.

Nach Reitzenstein war es Begers eigentliches Vorhaben, unter den sowjetischen Kriegsgefangenen des Lagers Auschwitz Menschen »vorder- bzw. innerasiatischer« Herkunft zu finden. Beger wollte vorgeblich eine von ihm und auch von Himmler vertretene »Theorie« (S. 347) verifizieren. Dem Tibetologen Beger zufolge hatte es zwei Wanderbewegungen gegeben: Die Einwanderung von »nordischen Menschen« (S. 8) nach Tibet und sodann die Wanderung der »arischen Rasse« von Tibet über den Kaukasus nach Nordeuropa. Begers »Theorie«[71] fasst Reitzenstein folgendermaßen zusammen: »Beger suchte in Tibet nach rassekundlichen Belegen für die Theorie, dass der Ursprung der europäischen Menschen in Tibet liege und Tibet seinerseits von einem Adel regiert wird, der von nordischen Menschen abstamme.« (S. 438)

Reitzensteins Darstellung von Begers Reise im Juni 1943 nach Auschwitz wirft Fragen auf, die im Buch unerörtert bleiben. Anfang März 1942 lebten, als das im Bau befindliche Lager Birkenau mit Häftlingen belegt wurde, von den über 10.000 nach Auschwitz verbrachten sowjetischen Kriegsgefangenen nur noch 945.[72] Am 1. April 1942 waren es noch 352, einen Monat später nurmehr 186. Beim letzten Zählappell am Tag der »Evakuierung« des Lagerkomplexes (17. Januar 1945) waren noch 96 sowjetische Kriegsgefangene am Leben.[73] Größere Transporte von Kriegsgefangenen der Roten Armee nach Auschwitz gab es 1942/43 keine mehr.[74] Der von Sievers in einem Schreiben erwähnte Hinweis Adolf Eichmanns vom Mai 1943, in Auschwitz sei »besonders geeignetes Material« (S. 7, 229 f., 323, 328, 446) für Begers Forschungsvorhaben vorhanden, muss daher unklar bleiben. Kaum anzunehmen, dass der »Juden-Referent« im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) mit den Gegebenheiten in Auschwitz so wenig vertraut war. Über die »Behandlung« der sowjetischen Kriegsgefangenen seit Herbst/Winter 1941 war Eichmann sicher unterrichtet. Wenig wahrscheinlich ist deshalb, dass er im Frühsommer 1943 der Fehlinformation aufsaß, in Auschwitz sei ein Reservoir an sowjetischen Kriegsgefangenen vorhanden, aus dem Beger »mongolische Typen« hätte heraussuchen können. Warum weder Sievers noch Beger sich bei der Lagerverwaltung von Auschwitz über die Zusammensetzung der Häftlingspopulation erkundigt haben, wenn es ihnen tatsächlich, wie Reitzenstein seiner Leserschaft weismachen will, um die Auswahl von »Mongolen« gegangen wäre, ist unerfindlich. Eine Anfrage beim in Oranienburg residierenden SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt erfolgte auch nicht. Das WVHA, dem das KL Auschwitz unterstand, wäre gewiss eine bessere Quelle als Eichmann gewesen. Dokumente über die »Zugangsgenehmigung zum Konzentrationslager Auschwitz« (S. 309) für die drei Akteure und über die »Freigabe der [ursprünglich vorgesehenen, W.R.] 150 Opfer zum Zwecke der Ermordung« (ebd.) sind nicht überliefert. Schwerlich dürfte im Vorfeld der Auschwitz-Reise der Kommandantur von Auschwitz gegenüber als Zweck des Himmlerschen »Geheimen Sonderauftrags« die Suche und Auswahl von »mongolischen Typen« genannt worden sein. Höß hätte das Ersuchen wegen fehlender »Objekte« negativ bescheiden müssen. Beger und seinen Begleitern wäre eine Auschwitz-Reise erspart geblieben.

Kurz: Wenig einleuchtend ist die Version von Reitzenstein, dass alle mit dem »Auftrag Beger« Befassten über die Gegebenheiten in Auschwitz so schlecht informiert waren. Die Annahme liegt deshalb nahe, dass es beim »Auftrag Beger« bzw. beim »Sonderauftrag« Himmlers um jüdische Häftlinge und nicht um Menschen »vorder- und innerasiatischer« Herkunft ging.

Reitzenstein erörtert gleichfalls nicht, dass im Oktober 1942 die jüdischen Häftlinge der auf dem Gebiet des Deutschen Reiches gelegenen Konzentrationslager nach Auschwitz verbracht worden sind. Die KZs auf dem Reichsgebiet sollten nach Himmlers Befehl vom 5. Oktober 1942 »judenfrei« sein. Der von Reitzenstein als gewichtig erachtete Hinweis von Präparator Wilhelm Gabel in einer im Juli 1960 durchgeführten staatsanwaltschaftlichen Vernehmung, man hätte, wäre es um Juden gegangen, doch »viel einfacher und weniger umständlich«[75] (S. 12, 318, 423, 432) jüdische Häftlinge im KZ Dachau finden können, ist deshalb ins rechte Licht zu rücken. Juden in großer Zahl waren seit dem Spätherbst 1942 nur noch in Auschwitz zu finden. Reitzenstein übersieht dieses Faktum und bewertet Gabels Hinweis sogar in seiner Kritik des Urteils vom 6. April 1971 für stichhaltig. Wäre es Beger, so seine wiederholte Darstellung, wirklich um Juden und nicht nach Reitzensteins Version (wenn auch vergeblich) um »Vorder- und Innerasiaten« (S. 11) gegangen, hätte er nicht ins weit entfernte Auschwitz, sondern in ein nahegelegenes Konzentrationslager reisen können. Dieses Argument ist für den Sommer 1943 wenig überzeugend.

Auch mit den in den 1960er Jahren durchgeführten NS-Verfahren ist der Autor schlecht vertraut. So schreibt er vom »seit 1965 geführten Prozess gegen Bruno Beger« (S. 103), obgleich die von ihm ausgewerteten Verfahrensakten doch zeigen, dass das Ermittlungsverfahren bereits 1960 eingeleitet worden ist und der Beger-Prozess, also die öffentliche Hauptverhandlung, 1970/71 stattfand. Am Ende seines Buches meint er sodann recht unverständlich, im Jahr 1964 sei noch kein Ermittlungsverfahren gegen Beger (S. 446) eingeleitet gewesen. Auch weiß Reitzenstein nicht zwischen staatsanwaltschaftlichem Ermittlungsverfahren und gerichtlicher Voruntersuchung zu unterscheiden. Geht es um eine Vernehmung durch den Untersuchungsrichter Düx, schreibt er vom durchgeführten Ermittlungsverfahren (S. 252, 254, 261, 292). Wenig angemessen ist auch, die Vernehmungen von Beschuldigten und Zeugen im Rahmen des Vorverfahrens, seien es staatsanwaltschaftliche oder richterliche, in den Quellenangaben meist als »Aussage« anzuführen. Für die sachkundige Leserschaft seines Buches, zumal sie nach des Autors Intention über Beger zu Gericht sitzen soll, ist durchaus wichtig, von wem und zu welchem Zeitpunkt im Rahmen des Vorverfahrens eine Vernehmung durchgeführt wurde. Richterliche Vernehmungen in der Endphase eines Vorverfahrens sind naheliegender Weise substanzieller als z. B. erste staatsanwaltschaftliche zu Beginn eines Ermittlungsverfahrens.

Unklar bleibt auch Reitzensteins Verständnis juristischer Sachverhalte. So schreibt er: »Da im Beger-Prozess aufgrund fehlender Belege nicht mit absoluter Sicherheit bewiesen werden konnte, dass er Kenntnis von der Ermordungsabsicht bezüglich der nach Natzweiler disponierten Opfer hatte, konnte Beger nur Beihilfe zum Mord nachgewiesen werden.« (S. 406, siehe auch S. 436) Dass Beger vom Gericht als Gehilfe und nicht als Mittäter qualifiziert wurde, hat mit der Frage, ab wann er Kenntnis von der Tötungsabsicht hatte, nichts zu tun. Beger hatte nach Auffassung des erkennenden Gerichts ein als »Sonderauftrag« Himmlers bezeichnetes Vorhaben durchzuführen. Er handelte mithin im Auftrag eines Vorgesetzten und konnte nach der herrschenden Rechtsprechung (subjektive Teilnahmetheorie) als Mittäter nur dann qualifiziert werden, wenn er sich die angeordnete Tat zu eigen gemacht, wenn er sie mit Eigeninteresse und Eifer durchgeführt hat. Diese »innere Einstellung« des Angeklagten Beger zur Tat konnte das Gericht bei der Beurteilung der »inneren Tatseite« mit der erforderlichen Sicherheit nicht feststellen. Für das Gericht hatte Beger zumindest zum Zeitpunkt seiner Tätigkeit in Natzweiler Kenntnis von der Tötungsabsicht. Er leistete im Wissen um den Tötungsplan seinen Gehilfenbeitrag, förderte und unterstützte somit nach Auffassung des Tatgerichts wissentlich und willentlich die Haupttat. Als Gehilfe wurde er qualifiziert, weil er für das Gericht nicht der Taturheber war, die Tat nicht als eigene wollte.

 

Reitzenstein und die Forschung

Dass neuere Forschung in der Regel ältere revidiert, ist eine Binsenweisheit. Reitzenstein wird in seinem Buch nicht müde, die vorgeblichen Defizite und Falschdarstellungen der bisherigen Forschungsliteratur zum Fall der »Straßburger Schädelsammlung« zu benennen. Fraglos ist seine Quellenbasis beeindruckend, unstrittig hat er Entdeckungen gemacht. Warum er aber fortwährend meint, Historikern und anderen wenig schmeichelhafte Motive zuschreiben zu müssen, ist unerfindlich. So meint er, »unzählige Autoren« seien Beger »auf den Leim« (S. 427) gekrochen. Die Autoren »kolportierten das von [Beger, W.R.] selbst geschaffene Bild des freundlichen Tibetologen, der offenes Interesse an fremden Kulturen und Völkern zeigte, sich als Freund des Dalai Lama inszenierte und der nur einmal als unbedeutender Befehlsempfänger nach Auschwitz geschickt worden sei, ohne den Hintergrund seines dortigen Aufenthalts zu durchschauen« (S. 427). Unerfindlich ist überdies, dass er offenbar meint, »bei der Aufklärung von NS-Unrecht« ginge es oftmals »um Historiker und ihre Netzwerke« und nicht wie bei ihm »um die Opfer und deren Anspruch auf eine sachliche, juristisch belastbare Aufklärung« (S. IX). Manchem Autor und mancher Autorin könnte es durchaus als ehrenrührig erscheinen, wenn Reitzenstein mit Blick auf die von ihm kritisierte Literatur forsch schreibt: »Es ist aber auch unbestreitbar und bis in die jüngste Vergangenheit zu beobachten, dass Kontroversen den Absatz von Büchern zur Freude der Verleger fördern.« (S. 427) Und sodann: »Krochen all diese Autoren – von [Alexander] Mitscherlich [Das Diktat der Menschenverachtung, 1947] bis [Hans-Joachim] Lang [Die Namen der Nummern, 2004] – Beger wirklich auf den Leim? Oder sollten einige ihre Bücher nur deshalb verfasst haben, um ein kontroverses Buch entstehen zu lassen, welches auf diese Weise Umsatz und Erfolg sichern würde.« (S. 428) Scheinbar zutiefst empört meint Reitzenstein, dabei jedweder Insinuation freien Lauf lassend: »So viele Bücher, so viele Vorträge, so viel Geld« (S. 437). Meint Reitzenstein die von ihm oftmals gescholtenen Autoren von Werken über die »Straßburger Schädelsammlung«? Haben sie durch eine Beger schonende, kontroverse Darstellung einzig einen Reibach machen wollen?

Sich selbst betrachtet Reitzenstein als untadeligen und aufrechten Autor, meint er doch betonen zu müssen, er habe sein Buch »nicht geschrieben, um zu gefallen. Es wurde ebenso wenig geschrieben, um sich in bestehende geschichtswissenschaftliche Netzwerke, Denkschulen oder Kontroversen einzuordnen. Dieses Buch wurde geschrieben, um Zeugnis abzulegen.« (S. IX)

Reitzensteins kritische Haltung gegenüber der etablierten, meist universitären und gut bestallten Geschichtsschreibung sowie sein durchaus unkonventioneller Ansatz sind selbstverständlich nur zu begrüßen. Freilich fragt sich der Rezensent, wer jemals ein wissenschaftliches Werk verfasst hat »um zu gefallen«. Steht es so schlecht um das Ethos der Geschichtswissenschaft hierzulande?

Der Autor moniert weiter die fehlende »Untersuchungstiefe« (S. 327) der vorliegenden Forschungsliteratur. Selbst lässt er aber Fragen unberücksichtigt, die sich, wie oben bereits gezeigt, aus der Geschichte von Auschwitz und der NS-Konzentrationslager ergeben. Überhaupt ist er mit Auschwitz wenig vertraut.[76] So schreibt er, Rudolf Höß sei »stellvertretender Lagerkommandant« (S. 327) gewesen, Zyklon B habe man »in handlichen Kartuschen und Ampullen« (S. 360) transportiert. Auch scheint er zu meinen, in der Regel und nicht als seltene Ausnahme sei »nach dem Versterben eines Häftlings dessen Häftlingsnummer erneut vergeben« (S. 407) worden. Eine weitere Formulierung Reitzensteins lässt auf unzureichende Kenntnis schließen. Wie dargelegt, wurden Anfang August 1943 von den 115 Menschen 86 jüdische Häftlinge ins KZ Natzweiler transportiert. Was mit den restlichen 29 Häftlingen geschah, ist ungeklärt. Drei sollen kurz nach ihrer Auswahl verstorben sein. Reitzenstein mutmaßt, dass sie bereits in Auschwitz ermordet und »die Köpfe nach einer Grobentfleischung zu Beger nach Mittersill[77] gesendet wurden« (S. 337). Sodann meint er, dass die 26 verbliebenen Opfer »gruppenweise in Auschwitz vergast« (S. 447) worden seien. Die Gaskammern in Birkenau, in den Monaten März bis Juni 1943 »in Betrieb« genommen, waren so groß, dass eine gruppenweise Tötung wie in der kleinen »Gas-Zelle« in Natzweiler nicht erforderlich war. In der Auschwitz-Forschung ist zudem unstreitig, dass für eine derart kleine Anzahl von Häftlingen keine Gaskammer und kein Zyklon B verwendet worden wäre.

Fraglos mit Fleiß hat Reitzenstein einen umfangreichen Quellenbestand ausgewertet. Seine Forschungsergebnisse werden berücksichtigt werden müssen. Auch sein Bestreben, Begers Anteil an dem Verbrechen anders als die allermeiste Literatur zu gewichten, ist verdienstvoll. Wissenschaft lebt von Revisionen. Doch die für das Buch gewählte Darstellungsform kann nicht überzeugen. Der Autor scheint sich selbst nicht schlüssig zu sein, welche Art von Werk er verfasst hat. Es ist ihm eine »historiographische Chronik« (S. IX), eine »Tatsachenchronik eines Verbrechens und der Vita der Verbrecher« (S. 3) und eine »Anklageschrift« (ebd.) zugleich, er nennt es ein »Kompendium verschiedener chronologischer Ereignisstränge« (S. 18) und keine »stringente Gesamtdarstellung« (ebd.). An anderer Stelle spricht er jedoch davon, »eine geschlossene Darstellung zum Plan der Straßburger Schädelsammlung« (S. 31) vorgelegt und gar eine »rechtsgeschichtliche Studie« (S. 1), ein »rechtshistorische[s] Buch« (S. 19) verfasst zu haben. Wiederholt nennt er sein Werk auch eine »Studie«. Überdies meint er, das Buch sei geschrieben worden, »um Zeugnis abzulegen« (S. IX). Eine derart variierende Selbsteinschätzung muss verwundern. Recht abwegig ist sodann, wenn der Autor meint hervorheben zu müssen, sein Buch sei »ausdrücklich nicht zur Lektüre durch Kinder und Jugendliche empfohlen« (S. 2).

Durch die gewählte Struktur des Buchs nimmt Reitzenstein unzählige Redundanzen in Kauf. Auch verliert er sich in Details, die mit der Darstellung des Verbrechens wenig zu tun haben. Im Vorwort nennt er sein Buch weiter ein »Gemeinschaftswerk vieler Spezialisten, deren Expertise an den notwendigen Stellen benötigt wurde« (S. VIII). Unstrittig hat sich der Autor in Wissenschaftsgebiete eingearbeitet, die dem Zeithistoriker gemeinhin verschlossen sind. Festzuhalten ist freilich, dass Rechtswissenschaftler den Autor bedauerlicherweise nicht darauf hingewiesen haben, dass landgerichtliche Staatsanwaltschaften in Sachen NS-Verbrechen keine »Vorermittlungen« (S. VII) geführt haben. Allein die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung der nationalsozialistischen Verbrechen (Ludwigsburg) hat, da sie keine Staatsanwaltschaft ist, »Vorermittlungen« durchgeführt. Vom Ausgang des Prozesses gegen Beger u.a. meint er, das Verfahren gegen Fleischhacker sei eingestellt (S. 256, 424) worden. Wenige Zeilen später heißt es jedoch, im Fall Fleischhacker sei Freispruch (S. 258) erfolgt. Ebenso zu Wolff: Zum einen meint der Autor, Wolff sei »noch während des Verfahrens freigesprochen« (S. 246) worden, zum anderen verlautet er, »das Verfahren gegen Wolff« (S. 249) sei aufgrund des von Michael H. Kater erstatteten Gutachtens[78] eingestellt worden.

Reitzenstein neigt überdies zu Superlativismus. Hirt ist ihm einer »der grausigsten Gestalten des an grausigen Gestalten nicht armen NS-Regimes« (S. 16), »einer der bekanntesten Täter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft« (S. 429). Der Mord an den 86 Häftlingen erachtet er als »eines der unmenschlichsten NS-Verbrechen« (S. 28).

 

Fazit

Ist »Fritz Bauers letzter Fall«[79] in Zeiten einer bundesweiten Bauer-Konjunktur schlicht gutem Marketing geschuldet? Mit dem Beger-Verfahren hatte der hessische Generalstaatsanwalt so viel und so wenig zu tun wie mit den vielen anderen NS-Verfahren, die von den neun landgerichtlichen Staatsanwaltschaften Hessens und seiner eigenen Behörde durchgeführt worden sind.[80] Ein Generalstaatsanwalt bearbeitet keine »Fälle«, ermittelt nicht »über Jahre hinweg gegen Bruno Beger […] um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen« (S. 437). Dass Berichte über den Verfahrensstand durch den jeweiligen Behördenleiter über den Generalstaatsanwalt, der die Dienst- und Fachaufsicht über die ihm nachgeordneten Staatsanwaltschaften hat, an das Justizministerium gehen, besagt keineswegs, dass der oberste Strafverfolger in sachlicher Hinsicht intensiv in die einzelnen Verfahren involviert ist. Ebenso wenig ist von Bedeutung, dass eine Anklageschrift die Unterschrift des Behördenleiters trägt. In der Regel unterzeichnen Behördenleiter Anklageschriften. Im Fall des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses und des Verfahrens gegen die beiden Eichmann-Mitarbeiter Hermann Krumey und Otto Hunsche, die maßgeblich an der Deportation der Juden aus Ungarn im Sommer 1944 beteiligt gewesen waren, hat zum Beispiel der Leiter der sogenannten Politischen Abteilung der landgerichtlichen Staatsanwaltschaft, Erster Staatsanwalt Hanns Großmann, die beiden Anklageschriften unterzeichnet. Verfasst hat er sie nicht.

Reitzenstein erbringt mit seinem Buch einen Beitrag zur florierenden Bauer-Hagiographie: »Der legendäre hessische Generalstaatsanwalt und ›Nazi-Jäger‹ Fritz Bauer unterschrieb persönlich die Anklageschrift gegen Bruno Beger als Haupttäter dieser Straftat. Der jüdische Jurist unterstellte August Hirt dabei eine geringere Tatbeteiligung als Beger.« (S. 9) Richtig ist, dass die Anklageschrift vom 8. Mai 1968 die drei Angeklagten als Mittäter qualifizierte. Reitzenstein hingegen sieht allein in Sievers, Hirt und Beger die »Haupttäter« (S. 243), in Fleischhacker, Wolff und anderen hingegen »Personen, die Beihilfe und Unterstützung leisteten« (S. 243). Freilich, auch hier bleibt unklar, ob Reitzenstein in seiner »Anklageschrift« die Begriffe im strafrechtlichen Sinne gebraucht, schreibt er doch an anderer Stelle, es sei »unzweifelhaft, dass Hirt eine wesentliche Beihilfe zu den 86 Morden leistete« (S. 318).

 

»Forensische Geschichtsschreibung«, die »juristisch klare Sachaufklärung« (S. 16) zu leisten beansprucht, müsste gerade hinsichtlich juristischer Sachverhalte präzise sein und über Sachkunde verfügen. Epistemologische Naivität, die unreflektierte Rede von aus den Dokumenten geschöpften Tatsachen, zeitigt überdies keine überzeugenden Resultate. Reitzenstein hat bei der Abfassung seiner »Anklageschrift« nicht bedacht, was Michael Wildt treffend festgestellt hat: »Die Kluft, die Historiker und Staatsanwälte trennt, ist zu groß, als daß der Versuch, sie zu überspringen oder gar zu ignorieren, nicht Schaden an der eigenen Arbeit nehmen würde.« [81]

 

 

Fußnoten:

[1] Werner Renz, Auschwitz vor Gericht. Fritz Bauers Vermächtnis und seine Missachtung, Hamburg: CEP Europäische Verlagsanstalt, 2018. Der Verf. meint freilich, in seinem Buch über die sechs Frankfurter Auschwitz-Prozesse (1963–1981) mit gutem Grund auf Bauer rekurrieren zu können, geht es doch insbesondere um die Darlegung von Bauers Rechtsauffassung, die in den späten Verfahren gegen Demjanjuk, Gröning und Hanning eine Renaissance erlebte. Ebenso ist es gut begründet, im Fall des von Bauer angestrengten Verfahrens gegen die NS-Generalstaatsanwälte und OLG-Präsidenten den hessischen Generalstaatsanwalt hervorzuheben. Siehe Christoph Schneider, Diener des Rechts und der Vernichtung. Das Verfahren gegen die Teilnehmer der Konferenz von 1941 oder: Die Justiz gegen Fritz Bauer, Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2017.

[2] Die Herausgabe seiner Aufsätze, Artikel, Interviews und Vorträge hat das Fritz Bauer Institut für Dezember 2018 angekündigt (Lena Foljanty, David Johst (Hrsg.), Fritz Bauer. Kleine Schriften, 2 Bde, New York, Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2018).

[3] Siehe das Faksimile in Julien Reitzenstein, Das SS-Ahnenerbe und die »Straßburger Schädelsammlung« – Fritz Bauers letzter Fall, Berlin: Duncker und Humblot, 2018, S. 212. Das Dokument, es handelt sich um eine Abschrift aus den Unterlagen des »Ahnenerbes«, weist keinen Gebrauch des Buchstaben »ß« auf, selbst bei Wörtern, bei denen die Schreibung mit »ss« vollkommen ungewöhnlich ist.

[4] Zitiert nach dem Faksimile in Reitzenstein, S. 212.

[5] Zur Vorgeschichte des Auschwitz-Prozesses siehe Werner Renz, »Der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess. Völkermord als Strafsache«, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Jg. 15, H. 2, 2000, S. 11–48 und ders., »Der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess. Zwei Vorgeschichten«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 50, H. 7, 2002, S. 622–631.

[6] Fritz Bauer Institut (FBI), Sammlung Frankfurter Auschwitz-Prozesse (FAP), Hauptakten (HA), FAP-1/HA-23, Bl. 3745.

[7] FBI, FAP-1/HA-27, Bl. 4672–4681, hier: Bl. 4672.

[8] Ebd. Als Beweismittel verwies die Staatsanwaltschaft auf »Schreiben Reichsführer-SS Persönlicher Stab v. 6.11.1942 an RSHA, Schreiben des SS-Standartenführers Sievers v. 21.6.1943 an RSHA, Telegramm an SS-Hauptsturmführer Prof. Hirth [sic!] vom 30.7.1943. […] Ferner die Ausführungen in dem Buch ›Croix Gammée‹ Seite 858/872« (ebd., Bl. 4673).

[9] Hessisches Hauptstaatsarchiv, Wiesbaden (HHStA), Abt. 461, Nr. 34145, Bl. 6. Mit Beschluss vom 8. August 1960 wurde Beger jedoch unter Aufrechterhaltung des Haftbefehls von der weiteren Untersuchungshaft verschont. Urteil vom 6.4.1971, HHStA, Abt. 461, Nr. 34153, Bl. 1579; ebenso in: C. F. Rüter u.a. (Hrsg.), Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1999 (JuNSV), Amsterdam, München, 2005, Bd. XXXV, S. 205. Das Amtsgericht beschloss eine Meldeauflage, die erst 10 Jahre später aufgehoben wurde (Beschluss des LG Frankfurt am Main vom 6.11.1970, HHStA, Abt. 461, Nr. 34151, Bl. 1113).

[10] Staatsanwaltschaftliche Vernehmung vom 31.3.1960, HHStA, Abt. 461, Nr. 34145, Bl. 12–15.

[11] Richterliche Vernehmung vom 1.4.1960, ebd., Bl. 21.

[12] Brief vom 4.4.1960 an StA Joachim Kügler, ebd., Bl. 27.

[13] Richterliche Vernehmung vom 14.12.1961, ebd., Bl. 113.

[14] Richterliche Vernehmung vom 9.4.1963, HHStA, Abt. 461, Nr. 34147, Bl. 477.

[15] HHStA, Abt. 461, Nr. 34145, Bl. I–II. Die Verfügung ist den mit arabischen Ziffern paginierten Akten vorangestellt.

[16] Ebd., Bl. 103–105.

[17] Ebd., Bl. 107–108.

[18] Reitzenstein weist darauf hin, Beger habe einen Dr. nat. und keinen Dr. phil (Reitzenstein, S. 202 f.) erworben.

[19] In einer undatierten Beschuldigtenliste der Frankfurter Staatsanwaltschaft heißt es zu Beger: »Mitglied des ›Ahnenerbes‹ oder des ›Instituts Swen [sic!] Hedin‹. Er hat im Juli 1943 im Stammlager 115 Häftlinge ›anthropologisch bearbeitet‹. Die Häftlinge wurden alsdann in das KZ Natzweiler überführt, dort getötet und in die Anatomie der Universität Straßburg verbracht, wo sie dem Aufbau einer Skelett-Sammlung dienen sollten.« (FBI, FAP-1/HA-30, Bl. 5101)

[20] Raphael Gross, Werner Renz (Hrsg.), Der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965). Kommentierte Quellenedition. Mit Abhandlungen von Sybille Steinbacher und Devin O. Pendas, mit historischen Anmerkungen von Werner Renz und juristischen Erläuterungen von Johannes Schmidt. Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2013, Bd. 1, S. 233.

[21] HHStA, Abt. 461, Nr. 34148, Bl. 225–227.

[22] Beschluss über die Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung vom 19.8.1963, HHStA, Abt. 461, Nr. 34148, Bl. 228–229.

[23] HHStA, Abt. 461, Nr. 34148, Bl. 269.

[24] HHStA, Abt. 461, Nr. 34148, Bl. 273.

[25] HHStA, Abt. 461, Nr. 34147, Bl. 500.

[26] HHStA, Abt. 461, Nr. 34170, Bl. 50–51, ebenso ebd., Nr. 34179, vorgeheftet Bl. 1 d. Handakten.

[27] In den 20 Monaten Prozessdauer hatten die beteiligten Justizjuristen keinen Urlaub nehmen können.

[28] Siehe Bericht vom 24.1.1966 an das Hess. Justizministerium, HHStA, Abt. 461, Nr. 34170, Bl. 58–59.

[29] Zur Geschichte der Frankfurter Auschwitz-Prozesse siehe Renz, Auschwitz vor Gericht, S. 17–144.

[30] Siehe Schreiben der GStA vom 2.6.1966 an StA b. LG FFM, ebd., ohne Foliierung.

[31] Was Bauer motivierte, den Fall Beger mit Nachdruck zu verfolgen, muss offenbleiben. Für Bauer womöglich von Bedeutung war der Umstand, dass sich Beger an den Schriftsteller Rolf Hochhuth mit »Drohbriefen« wandte. Siehe Vermerk von OStA Hanns Großmann (Lt. der polit. Abt. der StA b. LG FFM) vom 24.2.1965. Großmann hatte von Bauer einen Anruf erhalten. Der Generalstaatsanwalt bat um umgehende »Sachstandsmitteilung«, HHStA, Abt. 461, Nr. 34180, Bl. 39. Bauer stand mit Hochhuth in Kontakt und besuchte ihn gelegentlich in Basel, Hochhuths damaliger Wohnort.

[32] Siehe Johannes Warlos Rede anlässlich der Einweihung des »Fritz Bauer Saals« am 17.5.2017 im Landgericht Frankfurt am Main, in: Einsicht 18. Bulletin des Fritz Bauer Instituts (Herbst 2017), S. 59; ebenso abgedruckt in der Broschüre: Der Fritz Bauer Saal im Landgericht Frankfurt am Main. Hrsg.: Landgericht Frankfurt am Main, o.J., ohne Paginierung [2017]. Siehe auch das Interview des Rezensenten mit Warlo vom 18.7.2018 (Archiv des Fritz Bauer Instituts).

[33] Schreiben Warlos vom 1.9.1966 an HJM, HHStA, Abt. 461, Nr. 34170, Bl. 66.

[34] Schreiben Bauers vom 24.10.1966 an HJM, ebd., Bl. 68.

[35] HHStA, Abt. 461, Nr. 34149, Bl. 500–616.

[36] Schreiben Bauers vom 8.5.1968 an HJM, HHStA, Abt. 461, Nr. 34170, Bl. 85.

[37] Siehe Bauers Schreiben vom 8.5.1968 an StA FFM, ebd., Bl. 87–89.

[38] Anklageschrift vom 8.5.1968, HHStA, Abt. 461, Nr. 34149, Bl. 613.

[39] Ebd.

[40] HHStA, Abt. 461, Nr. 34150, Bl. 944.

[41] Ebd., Bl. 945–949.

[42] Ebd., Bl. 946.

[43] Ebd., Bl. 952.

[44] Ebd., Bl. 956–957.

[45] HHStA, Abt. 461, Nr. 34151, Bl. 968–992.

[46] Ebd., Bl. 968.

[47] HHStA, Abt. 461, Nr. 34150, Bl. 944.

[48] HHStA, Abt. 461, Nr. 34151, Bl. 1056–1065.

[49] Beschluss vom 2.10.1970, ebd., Bl. 1069–1071.

[50] Wie oben erwähnt, war Wiese im 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963/65) (zusammen mit seinen Kollegen Hanns Großmann, Georg Friedrich Vogel, Joachim Kügler) und im 2. Frankfurter Auschwitz-Prozess (1965/66) (zusammen mit seinem Kollegen Gerhard Zack) Vertreter der Anklage.

[51] Den Vorsitz führte Landgerichtsdirektor Friedrich Wilhelm Kritzinger (*1928). Die beiden Beisitzer waren Landgerichtsrat Christian Demuth (*1926) (Berichterstatter) und Landgerichtsrätin Johanna Dierks (*1934).

[52] Siehe das Urteil in: JuNSV, Bd. XXXV, S. 57–67.

[53] Schreiben Wieses vom 5.3.1971 an HJM, HHStA, Abt. 461, Nr. 34170, Bl. 141.

[54] Siehe das Urteil in: JuNSV, Bd. XXXV, S. 199–255.

[55] HHStA, Abt. 461, Nr. 34153, Bl. 1572 und in: JuNSV, Bd. XXXV, S. 244.

[56] Ebd.

[57] Ebd., Bl. 1599–1625.

[58] Ebd., Bl. 1590 und Bl. 1596.

[59] Ebd., Bl. 1666.

[60] Am Ende seines Buches schreibt Reitzenstein abermals: »Daraus ergibt sich das Anliegen dieses Buches: Fritz Bauers Verdacht, dass Bruno Beger Urheber und prospektiver Nutznießer des Verbrechens der Straßburger Schädelsammlung war, zu erhärten.« (S. 436)

[61] BGH-Beschluss vom 22.3.1973 (2 StR 293/72), in: JuNSV, Bd. XXXV, S. 252.

[62] Urteil des LG Frankfurt am Main vom 24.10.1973 (4 Ks 1/70), in: ebd., S. 253–255.

[63] Urteil vom 6.4.1971, HHStA, Abt. 461, Nr. 34153, Bl. 1488 und in: JuNSV, Bd. XXXV, S. 201.

[64] HHStA, Abt. 461, Nr. 34153, Bl. 1748.

[65] Siehe hierzu Michael Stolleis, »Der Historiker als Richter – der Richter als Historiker«, in: Geschichte vor Gericht. Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit. Hrsg. von Norbert Frei, Dirk van Laak und Michael Stolleis, München: Verlag C. H. Beck, 2000, S. 173–182.

[66] Das »Ahnenerbe«. Die Forschungs- und Lehrgemeinschaft in der SS. Organisationsgeschichte von 1935 bis 1945. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Ruprecht-Karl-Universität in Heidelberg, vorgelegt von Michael H. Kater, 1966, S. 572.

[67] Brief Katers an Bauer vom 5.1.1968, HHStA, Abt. 461, Nr. 34180, Bl. 101–101R.

[68] Schreiben Bauers an Kater vom 26.2.1968, ebd., Bl. 103–104. StA Warlo forderte beim Historischen Seminar der Universität Heidelberg mit Schreiben vom 26.2.1968 ein Exemplar von Katers Doktorarbeit an, ebd., Bl. 105. Mit Schreiben vom 31.5.1968 übersandte Warlo eine Kopie der Dissertation dem Vorsitzenden der Eröffnungskammer (HHStA, Abt. 461, Nr. 34154, Bl. 653–655).

[69] Anklageschrift vom 8.5.1968, HHStA, Abt. 461, Nr. 34149, Bl. 508.

[70] Warlo war von Bauer zunächst beauftragt worden, nach Martin Bormann zu suchen. Er ermittelte auch gegen »Euthanasie«-Verbrecher und vertrat die Anklage im 1966/67 durchgeführten Prozess gegen »Euthanasie«-Ärzte vor. Siehe Johannes Warlo, »NSG-Verfahren in Frankfurt am Main. Versuche einer justiziellen Aufarbeitung der Vergangenheit«, in: Ein Jahrhundert Frankfurter Justiz. Gerichtsgebäude A: 1889–1989, hrsg. von Horst Henrichs und Karl Stephan, Frankfurt am Main: Verlag Waldemar Kramer, 1989, S. 155–183.

[71] »Die einzige von Beger zwischen 1941 und 1945 verfolgte These auf dem Gebiet der Anthropologie war […] die Absicht, Wanderbewegungen von Tibet nach Europa nachzuweisen.« (S. 347)

[72] Danuta Czech, Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939–1945. Mit einem Vorwort von Walter Laqueur. Aus dem Polnischen von Jochen August, Nina Kozlowski, Silke Lent, Jan Parcer. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 1989, S. 179.

[73] Jerzy Brandhuber, »Die sowjetischen Kriegsgefangenen im Konzentrationslager Auschwitz«, in: Hefte von Auschwitz, H. 4, 1961, S. 29, 31. Czech, Kalendarium, gibt für den 17.1.1945 in der Anm.* auf S. 966 ihres Werks »92 russische Kriegsgefangene« an.

[74] Siehe die Aufstellung von Transporten bei Brandhuber, S. 42.

[75] HHStA, Abt. 461, Nr. 34145, Bl. 53.

[76] Anderswo meint Reitzenstein: »Allein im Warschauer Ghetto verstarben monatlich Tausende Juden aus ganz Europa, aus denen jene hätten ausgewählt werden können, die anthropologisch interessant gewesen wären.« (S. 432) Das Warschauer Ghetto war kein Deportationsziel für »Juden aus ganz Europa«.

[77] Das Reichsinstitut Sven Hedin für Innerasien und Expeditionen, Anfang 1943 begründet, war im August 1943 von München nach Mittersill (Prinzgau/Österreich) verlegt worden (S. 230).

[78] Siehe Katers »Gutachten über die Funktionen des Wolf-Dietrich Wolff in der Forschungs- und Lehrgemeinschaft ›Das Ahnenerbe‹ e.V. von 1939 bis 1945« vom 5.9.1968, HHStA, Abt. 461, Nr. 34150, Bl. 764–767.

[79] Zeitgleich mit dem Beger-Prozess wurde der Prozess gegen den KZ-Arzt Horst Schumann begonnen. Um dessen Auslieferung durch die Regierung in Ghana hatte sich Bauer bemüht. 1971/72 standen erneut vier »Euthanasie«-Ärzte in Frankfurt/M. vor Gericht, gegen die bereits 1966/67 verhandelt worden war. In den 1970er Jahren gab es noch zwei Auschwitz-Verfahren, siehe Renz, Auschwitz vor Gericht, S. 140–144.

[80] Siehe die grundlegende Studie von Matthias Meusch, Von der Diktatur zur Demokratie. Fritz Bauer und die Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Hessen (1956–1968), Wiesbaden: Historische Kommission Nassau, 2001 und Andreas Eichmüller, »Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen in Hessen. Die Ära von Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1956–1968)«, in: Einsicht 12 (Herbst 2014), Bulletin des Fritz Bauer Instituts, S. 42–49.

[81] Michael Wildt, »Differenzierte Wahrheiten. Historiker und Staatanwälte als Ermittler von NS-Verbrechen«, in: Geschichte vor Gericht. Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit, S. 56.

 

Dieser Beitrag von Werner Renz ist die erweiterte Fassung seines Aufsatzes, der in der Zeitschrift myops, Heft 34, Jg. 2018, S. 40-53 erschienen ist. Renz war Leiter der Abteilung Archiv und Bibliothek des Fritz-Bauer-Instituts Frankfurt/Main.

 

 

 


 

Hans-Joachim Lang

Nicht alle neue Besen kehren gut

Julien Reitzenstein fegt durch die Geschichte der 86 Morde im KZ Natzweiler-Struthof. Anmerkungen zu einer Neuerscheinung

 

Im August 1943 hat eines der bizarrsten Verbrechens, das je im Namen der Wissenschaft begangen wurde, im KZ Natzweiler-Struthof 86 Menschen das Leben gekostet. Die überlieferten Quellen geben keine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem Initiator. Nur Schlussfolgerungen sind möglich, darum gehen die Meinungen auseinander.

 

Im März 2018 erschien eine Studie des Historikers Julien Reitzenstein „Das SS-Ahnenerbe und die ,Straßburger Schädelsammlung‘ – Fritz Bauers letzter Fall.“ Sie will dieses Verbrechen noch besser ausleuchten als es bislang geschehen ist und „juristisch nachvollziehbar“ den „tatsächlichen Hergang der Ermordung von 86 Menschen“ darstellen. (S. 13) Angesichts der zahlreichen Rätsel, die den Fall noch immer umgeben, ist das an und für sich keine unnötiges Unterfangen.

 

Insbesondere gilt es zu fragen: Gab Professor August Hirt, der zu der Zeit an der deutschen Reichsuniversität Straßburg den Lehrstuhl für Anatomie innehatte, den einzig auslösenden Anstoß zu den Morden? Oder war er zwar nicht der Initiator, aber der skrupellose Mittäter aus optimierendem Eigeninteresse? Oder betätigte er sich lediglich als „dienstleistender Präparationspate“ (S. 454) eines ambitionierten Anthropologen, wie es Reitzenstein in seiner umfangreichen Studie nahelegt? Nur darum geht es in meinen folgenden Anmerkungen dazu.

 

Nach der Beweisführung Julien Reitzensteins, der sich mental in der Nachfolge des legendären Generalstaatsanwalts Fritz Bauer als neuer Chefankläger fühlt, erscheint der karriere-ambitionierte Bruno Beger als der Hauptverantwortliche für die Ermordung der 86 Jüdinnen und Juden. Aber nicht, weil er sich an der Erforschung einer angeblichen jüdischen Rasse beteiligen wollte. Denn wie hinlänglich bekannt, interessierte sich der promovierte Anthropologe und Mitarbeiter der SS-Wissenschaftsorganisation „Ahnenerbe“ seit einer Tibet-Expedition primär für die Herkunft der Arier, die er in Tibet verortete – quasi dem Atlantis der „nordischen Menschen“. Sie sollen sich dann, so die von ihm geglaubte Theorie, im Laufe der Geschichte in Richtung Mitteleuropa ausgebreitet haben. In groß angelegten Expeditionen des „Ahnenerbe“ wollte Beger anhand von anthropologischen Messungen die Wanderungsbewegungen an vermuteten typischen Merkmalen an Kopf und Schädel ausgewählter Sowjetbürger nachvollziehen. Solche Daten sollten nicht in harmlosen wissenschaftlichen Erhebungen gewonnen werden, vielmehr scheute sich die SS-Wissenschaftsorganisation auch nicht, wie eine im Herbst 1942 / Frühjahr 1943 geplante (aber nicht realisierte) Expedition („Sonderkommando K“) in den Kaukasus vor Augen führt, mit verbrecherischen Methoden zu den erhofften Ergebnissen zu gelangen.

 

Dasselbe galt für einen Plan der „Sicherstellung der Schädel von jüdisch-bolschewistischen Kommissaren zu wissenschaftlichen Forschungen in der Reichsuniversität Straßburg“. Auf dieser in der seit dem Nürnberger Ärzteprozess schon viel zitierten „Denkschrift“ war allerdings weder ein Datum angegeben noch ein Verfasser ausgewiesen. Sie lag einem Konvolut bei, das über August Hirts Forschungsinteressen Auskunft geben sollte und von SS-„Ahnenerbe“-Geschäftsführer Wolfram Sievers am 9. Februar 1942 als „vorläufiger Bericht“ an SS-Führer Heinrich Himmler weitergeleitet wurde, der Hirts Interessen besonders zu fördern gedachte. „Nahezu von allen Rassen und Völkern sind umfangreiche Schädelsammlungen vorhanden. Nur von den Juden stehen der Wissenschaft so wenig Schädel zur Verfügung, daß ihre Bearbeitung keine gesicherten Ergebnisse zuläßt“, beschreibt diese „Denkschrift“ das Motiv und die Ziele des Plans. Der Krieg im Osten, präzisiert sie dann mit Blick auf den am 22. Juni 1941 begonnenen Krieg gegen die Sowjetunion, biete jetzt Gelegenheit, „diesem Mangel abzuhelfen … indem wir ihre Schädel sichern“. Durch Morde.

 

Diese Schrift gilt als eines der Schlüsseldokumente, warum im Sommer 1943 in Auschwitz 86 Juden selektiert, im KZ Natzweiler-Struthof ermordet und zur Weiterverwendung an das Anatomische Institut der deutschen Reichsuniversität Straßburg gebracht wurden. Reitzenstein ist sich sicher, dass deren Verfasser nicht August Hirt ist, sondern Bruno Beger. Hirt habe in „pervertierter ,Kameradschaft‘“ (S. 428) zugestimmt, dass dieses Papier als sein Anliegen Himmler unterschoben wurde. Ja, Reitzenstein hält es nicht einmal für ausgeschlossen, dass Hirt im Februar 1942 gar keine Kenntnis von diesem Plan hatte. Eine gewiss eigentümliche Sicht auf den Anatomie-Professor, der in jenen Monaten zwar bei Giftgas-Experimenten an Ratten eine Lungenverletzung davongetragen und obendrein in seiner Arbeitskapazität überlastet war, aber in seiner Umgebung als durchsetzungsstark empfunden wurde.

 

Den Widerspruch von Begers eigenen Interessen und der in der „Denkschrift“ beschriebenen „Sicherstellung“ von Schädeln jüdischer Gefangener erklärt Reitzenstein damit, „dass der Begriff Jude bei diesem Verbrechen stets metonym oder synonym für asiatische Kriegsgefangene der Roten Armee verwendet wurde“. (S. 432)

 

Von der zweiten Septemberwoche 1942, als der Plan konkret zu werden schien, wurde das Vorhaben wegen einer Fleckfieber-Epidemie im KZ Auschwitz auf den Frühsommer 1943 verschoben. Ende April 1943 erhielt Sievers von Eichmann die Nachricht, dass jetzt in Auschwitz „besonders geeignetes Material vorhanden“ sei zur Verwirklichung der geplanten Sammlung. Darum, schließt Reitzenstein messerscharf, „darf angenommen werden, dass es sich um Inner- und Vorderasiaten handelte, die Adolf Eichmann für Beger unter den sowjetischen Kriegsgefangenen ermittelt hatte“. (S. 230) Auch Eichmann also ein Dienstleister von Bruno Beger? Obendrein ein höchst tölpelhafter, der keine Ahnung hatte von den tatsächlichen Vorgängen in Auschwitz?

 

Eines Fritz Bauers, auf den sich Reitzenstein mit seiner artifiziellen Beweisführung beruft, sind solche Behauptungen unwürdig. Denn Bauer wusste mit Sicherheit, dass zu dieser Zeit nur relativ wenige sowjetische Soldaten in Auschwitz, Hunderttausende aber an anderen Orten gefangen waren. Im Herbst 1941 hatte die SS im Stammlager Auschwitz links des Eingangstors neun Blöcke für ein russisches Kriegsgefangenenlager abgetrennt. Rund 10 000 Mann waren dort im Oktober 1941 eingewiesen worden. In den nächsten Monaten waren sie dafür eingesetzt worden, in Birkenau ein riesiges Vernichtungslager aufzubauen. Am 1. März 1942, dem Tag der Auflösung der Kriegsgefangenenabteilung im Stammlager, lebten nur noch 945 sowjetische Kriegsgefangene. Sie wurden nach Birkenau überstellt und zusammen mit anderen Häftlingen untergebracht. Gegen Ende 1942 zählte man in Auschwitz rund 150 sowjetische Kriegsgefangene. Und am 23. April 1943, also fünf Tage vor Eichmanns Kontakt mit Sievers, waren noch genau 145 sowjetische Kriegsgefangene in Auschwitz.

 

Als Bruno Beger am Morgen des 7. Juni 1943 in Auschwitz eintraf und bald danach mit seinem Auftrag begann, konnte er an Ort und Stelle nur feststellen, dass er ihn nicht erfüllen konnte – falls sein Auftrag lautete, Angehörige einer „asiatischen Rasse“ aufzuspüren. Also hat er sich, so die Schlussfolgerung Reitzensteins, spontan entschieden, statt Russen Juden zu selektieren. Warum? Julien Reitzenstein: „Nach all dem Aufwand bei den involvierten Stellen wäre ein Abbruch der Aktion zu diesem Zeitpunkt eine erneute Blamage für den aufstrebenden Nachwuchswissenschaftler Beger gewesen.“ (S. 446)

 

Damit ist klar gesagt, dass es faktisch überhaupt nicht möglich war, was sich Reitzenstein nach eigenem Gutdünken als „Auftrag Beger“ ausmalt. Tatsächlich hatte Beger nämlich einen klaren Auftrag bekommen, an dem er inhaltlich auch gar nicht deuteln konnte. Das hätte Reitzenstein in meinem Buch („Die Namen der Nummern. Wie es gelang, die 86 Opfer eines NS-Verbrechens zu identifizieren.“ Hamburg 2004) auf Seite 153 nachlesen können. Am 2. November 1942 hatte das „Ahnenerbe“ den „Aufrag Beger“ quasi auf den Dienstweg gebracht und den Auftrag darin konkret beschrieben. "Ahnenerbe"-Geschäftsführer Sievers übermittelte dem persönlichen Referenten Himmlers, dass »für bestimmte anthropologische Untersuchungen« nun »150 Skelette von Häftlingen bezw. Juden notwendig« seien, »die vom KL Auschwitz zur Verfügung gestellt werden sollen«. Dazu möge das Reichssicherheitsamt die nötige Anweisung geben. Rudolf Brandt wiederum leitete diesen Wunsch weiter an Adolf Eichmann. Ihn informierte er über eine Anordnung Himmlers, laut der Hirt »für seine Forschungen alles Notwendige zur Verfügung gestellt wird«. Im Auftrag Himmlers bitte er deshalb, »den Aufbau der geplanten Skelettsammlung zu ermöglichen«. Die Einzelheiten werde dann Sievers mit ihm regeln. Dem kann man noch bestärkend hinzufügen, wie Sievers am 5. September 1944 in einem Schreiben an Brandt im Nachgang den inneren Zusammenhang des Verbrechens rekapitulierte: "Gemäss Vorschlag vom 9. 2. 42 [ = sogenannte Schädel-"Denkschrift" – Lang] und dortiger Zustimmung vom 23. 2. 42 AR/493/37 [ = Reichsführung der SS – Lang] wurde durch SS-Sturmbannführer Professor Hirt die bisher fehlende Skelettsammlung angelegt. Infolge Umfang der damit verbundenen wissenschaftlichen Arbeit sind Skelettierungsarbeiten noch nicht abgeschlossen."

 

Reitzenstein freilich formt aus seinem Gedankenkonstrukt eine „Anklageschrift“, die er als eine verbessernde Überarbeitung jener dem Landgericht Frankfurt/Main am 8. Mai 1968 eingereichten Anklageschrift gegen Beger und andere ansieht, von der er ausweislich des Buchtitels („Fritz Bauers letzter Fall“) offenbar annimmt, Bauer habe sie selbst erarbeitet. Dessen verbindlicher Anteil daran bestand in seiner Unterschrift als Behördenleiter. Reitzenstein sagt selbst, was er jetzt speziell mit seiner Fortschreibung bezweckt: „Sie ist damit Ausgangspunkt eines fiktiven Verfahrens, das eine Superrevisionsinstanz mit der Neubeurteilung des Urteils befasst, welches das Schwurgericht Frankfurt am Main gegen Bruno Beger verhängt hatte. Die Leser besetzen in diesem Verfahren die Richterbank der Superrevisionsinstanz. Die Anklage wird ihre Fakten vorlegen und ist zuversichtlich, das Gericht bezüglich Tathergang und Schuld der Angeklagten überzeugen zu können.“ (Vorwort, S. IX) Julien Reitzenstein hätte sich eine Blamage durch seine Art von spekulativer Geschichtsschreibung ersparen sollen. Fritz Bauer, an dessen Ruf er sich wie ein Grabräuber bedient, hat solche Annäherungsversuche nicht verdient.

 

Tübingen im April 2018

 

Kleiner Nachtrag aus einer Rede, die Oberstaatsanwalt a.D. Johannes Warlo am 17. Mai 2017 anlässlich der Feierstunde zur Eröffnung des Fritz-Bauer-Saals im Landgericht Frankfurt am Main gehalten hat: "(...) Als Staatsanwalt Joachim Kügler, einer der drei Sitzungsvertreter im Auschwitz-Verfahren und zuständiger Sachbearbeiter für die Aufarbeitung der noch offenen Ermittlungen dieses Verfahrens, bald nach Ende der Hauptverhandlung aus dem Justizdienst ausschied, blieb ein Anhängsel dieses Prozesses unerledigt: der Fall der Skelettsammlung des Prof. August Hirt in Straßburg. (...) Bauer bat mich, mich der Sache anzunehmen, die entsprechenden Akten zusammenzustellen und eine Anklage anzufertigen, die dann über die entsprechende landgerichtliche Staatsanwaltschaft dem Landgericht Frankfurt zugestellt wurde."

Nachzulesen in Einsicht 18, Bulletin des Fritz Bauer Instituts, Frankfurt am Main, Herbst 2017, S. 59.